Der Mythos vom „hohen Haus“

Im Jurybericht zum Architekturwettbewerb wird das Siegerprojekt „Vrenelisgärtli“ mehrfach für seine Rücksichtnahme auf das Quartier im Norden gelobt. Ein parallel zur Wagerenstrasse liegendes „hohes Haus“ lehne sich in der Formensprache an die Sanatoriumsbauten der Jahrhundertwende an. «Von seiner Erscheinung her entspricht der Bau jenem Bild eines hohen Hauses, das etwa für prägnante, auf Anhöhen thronende und sich nach Sonne und Aussicht ausrichtende Hotelkomplexe charakteristisch ist», schreibt die Jury weiter. Aha.

Tatsächlich handelt es sich beim Projekt der Metron-Architekten aus Brugg um einen eindrücklichen Gebäudekomplex. Diesen als „hohes Haus“ zu bezeichnen ist aber gar beschönigend: mit einer Länge von 95 Metern und einer Höhe von 35 Metern handelt es sich baurechtlich wohl um ein Hochhaus (da höher als 25 Meter), in der Realität präsentiert sich der Bettentrakt jedoch als massiver Riegel.

Zum Vergleich: das Bettenhochhaus des GZO Spitals in Wetzikon hat ohne technische Aufbauten eine Höhe von rund 39 Metern bei einer Breite von 42 Metern.  Das vermeintlich „schlanke Hochhaus“ der Rehaklinik in Uster wäre also annähernd gleich hoch wie das Bettenhochhaus in Wetzikon aber mehr als doppelt so breit! Um sich die Dimensionen von „Vrenelisgärtli“ plastisch vor Augen zu führen, muss man aber nicht nach Wetzikon an die Spitalstrasse fahren. Viel einfacher: in Uster an die Poststrasse in den «Kern Nord» pilgern und sich vor die Skyline-Wohntürme hinstellen. Diese sind 33 Meter hoch und (von der Poststrasse aus gesehen) 15 Meter breit. „Vrenelisgärtli“ wird also noch 2.5 Meter höher und – vor allem – mehr als 6-mal so breit!

 „Vrenelisgärtli“ steht quer in der Landschaft

Die Wettbewerbsjury setzt sich in der Würdigung des Siegerprojekts geschickt die für die jeweiligen Sichtverhältnisse günstige Brille auf. Beim Blick von Norden etwa wird die Unscheinbarkeit des Bettenhochhauses betont, so z.B. auf Seite 19:

„Indem es sich parallel zur Wagerenstrasse stellt, fügt es sich gleichzeitig auch in das vorherrschende Quartiergefüge mit dem der Topografie folgenden parallelen Strassenmuster ein. […] Die Höhenentwicklung hat allerdings nichts mit dem Bild eines Hochhauses als «Landmark» zu tun (solche wesentlich höhere Gebäude sind im Zentrum Usters im Rahmen der Hochhausplanung vorgesehen).“

Im  Bericht des Jurypräsidenten, nur wenige Seiten vorher (Seite 12), tönte es noch ganz anders. Stolz wird das neue Monument gepriesen:

„Die städtebauliche Setzung als der Bedeutung angemessenen «Landmark» im Stadtgefüge von Uster und die architektonische Ausformulierung […] sind schlüssig.“

Ja was denn nun – «Landmark» oder nicht?

Darstellende Geometrie

Der Jurybericht strotzt nur so von derartigen Widersprüchen. Es ist offensichtlich, dass es den Juroren nicht ganz wohl ist bei der Sache, einen fast 100 Meter langen, 10-geschossigen Bau in Ost-West-Ausrichtung an die Wagerenstrasse zu pflanzen. Die Formulierung, dass sich „Vrenelisgärtli“ ins „vorherrschende Quartiergefüge mit dem der Topografie folgenden parallelen Strassenmuster einfüge“ entbehrt nicht einer gewissen Ironie: warum, bitte schön, sollte sich ein 35 Meter hoher, dreidimensionaler Bau am zweidimensionalen Strassengefüge orientieren? Wer die Situation an der Wagerenstrasse kennt, weiss, dass das 3D-Quartiergefüge durch das Pflegezentrum „Im Grund“ im Osten und durch das Spital im Westen geprägt sind. Beide Baukörper stehen fast oder ganz rechtwinklig zum angeblich so einfügsamen „Vrenelisgärtli“. Deshalb erlauben wir uns in diesem Blog anstelle von einem „hohen Haus“ vom Reha-Riegel zu sprechen. Darstellende Geometrie, sozusagen.

Die Quartier-Unverträglichkeit dieses Projekts offenbart sich aber am deutlichsten mit einem Blick auf die historischen Strassennamen aus den 1920er Jahren im Norden: Alpenblickstrasse, Glärnischstrasse, Mythenstrasse. Kann es wirklich die Absicht von umsichtigen Planern sein, dem Alpenblick ein „Vreneli“ aufs Auge zu drücken?